Manche Dinge beginnen ganz klein und unscheinbar und wachsen uns dann mehr und mehr über den Kopf und wir wissen gar nicht, wie wir sie noch bewältigen sollen.

Was klein und unscheinbar beginnt, wächst einem über den Kopf – wie Audrey II, die zuerst doch so klein und niedlich ist – aber dann…

So ergeht es nicht nur den Figuren aus dem „Little Shop of Horrors“ angesichts der übermächtig zu werden drohenden fleischfressenden Pflanze Audrey II, sondern häufiger schon auch den verschiedenen Umsetzungen des Stoffes. Das beginnt schon damit, dass der Regisseur Roger Corman 1960 zunächst keinen Verleih für seinen Film findet (→Quelle), der die Urfassung darstellt. Doch solche Probleme treten immer wieder auf, etwa auch, als 1986 Frank Oz, der Regisseur, und Howard Ashman, der Drehbuchautor der Adaption der Musical-Fassung, ihr favorisiertes Ende, in dem Audrey II und ihre Ableger die Weltherrschaft übernehmen, nicht umsetzen dürfen (→Quelle), da der Produzent befürchtet, einem Film mit einem solchen Ende fände kein zahlenmäßig hinreichendes Publikum.
Und die Vorführung und mit ihr das Publikum hätten auch beinahe der diesjährigen Musical-Produktion der Leibnizschule gefehlt – beziehungsweise hatten ihr gefehlt, nämlich aufgrund des Corona-bedingten Lockdowns.
Kurz vor den Sommerferien im Juli 2022 aber wurde doch noch möglich, was von der Muscial-AG und der Chor-AG lange vorbereitet, erarbeitet, einstudiert worden war: The Little Shop of Horrors mit der Musik von Alan Menken und der deutschen Fassung des Librettos von Howard Ashman auf der Bühne der Leibnizschule.

Was lange währt, wird endlich gut – und gelangt zur Aufführung…!

Die Produktion war aufwendig, die (un-) heimlichen Hauptdarstellerinnen Audrey II. in jung und adult wirklich beeindruckend, Kostüme, Bühnenbild und Ausstattung ebenso – und das muss deutlich betont werden – derart quasi-professionell, dass man vergessen konnte, dass man gerade „bloß“ einer Schultheater-Aufführung beiwohnte.

Die junge Pflanze war als Handpuppe in Kombination mit einem falschen Arm von einer Schülerin kreiert worden, die große Carnivore war eine freundliche Leihgabe des Hessischen Staatstheaters Wiesbaden, dem Initiator Kegler eng verbunden ist.

Bühnenbild, Ausstattung, Technik waren wie stets äußerst professionell – und Audrey II…!

Der Horror, den Audrey II verbreitet, ist aber nicht nur der Raffinesse der Puppe zuzuschreiben – er resultiert vor allem aus dem Plot und seinen Implikationen.

Und Audrey II ist dabei nur die Kehrseite der Medaille, deren anderes Antlitz das der originären (menschliche-allzumenschlichen) Audrey darstellt. Wenn diese sich nach einer biederen Gartenzwerg-Idylle sehnt, mag das ihrer offensichtlichen masochistischen Neigung zuzuschreiben sein, es entspricht aber auch jenen Tendenzen zum Eskapismus, die man heute angesichts solcher existenz- (und ruhe-) bedrohenden Ereignisse wie des Klimawandels, der Corona-Pandemie oder des Krieges in der Ukraine beobachten kann.

Gartenzwergidyllen-Eskapismus

Wenn immer mehr Menschen der fleischfressenden Pflanze zum Opfer fallen, mag man die carnivore Pflanze selbst mit dem Corona-Virus, den armuts- und hungerfördernden Folgen des Klimawandels und der Umweltzerstörung oder wiederum mit dem Krieg (in der Ukraine und vielerorts sonst auf der Welt) identifizieren, und unzweifelhaft ist sie in alldem mit der Rücksichtslosigkeit eines Kapitalismus vor allem im Stile der seit 2005 vielerorts begrifflich wieder salonfähig gewordenen (tier- statt pflanzenmetaphorischen) „Heuschrecken“ (→Quelle) assoziiert, der ihren Siegesfeldzug (letztlich gar global) fördert. Und im Hinblick auf das Gewinnstreben vieler Figuren und den Sadismus, der durch den Zahnarzt Orin Scrivello sinnfällig verkörpert wird, mag man sich an die sozialen Defizite erinnert fühlen, die der Lockdown leider vielfach befördert hat (vgl. etwa folgende →Quelle).

Der Zahnarzt als Inbegriff des Sadismus

Schicksalsgläubige mögen in Audrey II eine Verkörperung einer befürchteten „Rache der Natur“ (ein Motiv, das man sonst aus TIERhorrorfilmen kennt (→Quelle) erkennen, Verschwörungstheoretiker werden hinter Audrey vielleicht eine implizite Warnung vor gentechnischen Experimenten zu erkennen glauben und sie womöglich wiederum mit dem Corona-Virus gleichsetzen. Nihilisten hingegen werden das Geschehen als Beleg dafür werten, wie sinnfrei die Welt ist.

Vor allem anderen ist der Stoff aber auf recht anarchische Weise amüsant, so wurde viel gejubelt und gelacht, und der tosende Applaus war wohlverdient.

Das Stück selbst war so zugleich selbst ein Vehikel des Eskapismus, zumal live und coram publico gespielt wurde und die Maskenpflicht zum Zeitpunkt der Aufführungen längst aufgehoben war, und Kommentar zum Eskapismus; zugleich Mahnung an die Verantwortlichkeit des Handelns und in seiner Absurdität Ausdruck der Empfehlung, sich selbst und die Welt nicht allzu ernst zu nehmen.

Vielleicht war es ein Segen für das Stück, dass es nicht schon vor der Corona-Pandemie und den Lockdowns zur Aufführung gekommen war, fand man doch so – sofern man wollte – neue Anknüpfungspunkte.

Angesichts all dessen war es das richtige Stück zur richtigen Zeit!

Ein darstellerisches Chamäleon beim Rollenwechsel…

Auf jeden Fall war es ein Segen, dass es nun gespielt wurde – für das Publikum ebenso wie für die Akteur*innen, die ihr vorheriges Proben schon zwecklos zu werden hatten befürchten müssen. Tatsächlich wurden einige (zum Teil gar mehrere und durchweg vor allem tragende!) Rollen von Ehemaligen gespielt, die während der Corona-bedingten Zwangspause der Musical-AG bereit ihr Abitur abgelegt hatten, aber dank ihrer ungebrochenen Verbundenheit mit der Leibnizschule und der Musical-AG bereit waren, ihr Engagement wieder aufzunehmen. Ihnen gebührt großer Dank für diese Bereitschaft, sich wieder dem schulischen Rahmen und Zeitplan unterzuordnen, um dem Projekt zum Gelingen zu verhelfen.

Verdienter Applaus für die Akteur*innen!

Dank sei hiermit auch allen anderen Mitwirkenden gesagt, stellvertretend insbesondere den Kolleg*innen Kegler, Heller und Seck, für ihr außerordentliches Engagement und ein paar sehr gelungene Theaterabende!

(Text und Bild: Blu)