Tino Leos Parforceritt durch den Vormärz und die Revolution von 1848/49

Gehetzt und getrieben stürzt der Mainzer Schauspieler und, wie er sich selbst bezeichnet, Histotainer Tino Leo in der Rolle des ebenfalls aus Mainz stammenden Revolutionärs und späteren liberalen Politikers Johann Adam von Itzstein die Bühne und entfaltet, von dieser historischen Figur ausgehend, die ihren Lebensweg bis zum Scheitern des deutschen Parlaments und der Verfolgung der Demokraten repituliert, in anschaulicher Weise ein hoch komprimiertes Bild der deutschen Geschichte vom Wiener Kongress 1815 über den Vormärz bis hin zur Revolution von 1848/1849 und der Paulskirchenversanmlung.

Tino Leo als Adam von Itzstein flüchtet – vor Verfolgung und in die Erinnerung an sein Leben und die Geschichte Deutschlands im 19. Jahrhundert.

Und man merkt schnell: der Mann gehört auf die Bühne, die er, der mitunter auch mal bloß in einem Klassenzimmer spielt, dankbar annimmt und, obwohl er als Ein-Mann-Theater alleine die zehn von ihm ausgewählten und ausgestalteten Figuren verkörpert, raumgreifend bespielt.

Er gehört (wie die Bilder erahnen lassen) zu jenen Menschen, die über ein sehr sprechendes Gesicht verfügen, das es dem Zuschauer erleichtert, Situation und Person der jeweils dargestellten Figur selbst dann intuitiv leicht zu erfassen, wenn Leo wieder einmal in Sekundenschnelle zwischen den Rollen switcht.

Die Schüler*innen der Q2 schenkten Leos Darbietung und seinem Stück die nötige und gebotene Aufmerksamkeit, und die dramatisierte 45-minütige Geschichtsstunde traf nicht auf taube Ohren.

Tino Leo spricht sein Publikum an – in jeder Hinsicht!

Fasziniert folgte man dem Wechselspiel zwischen dem verzweifelten Ringen der Revolutionäre und der späteren Parlamentarier, der Rat- und Hilflosigkeit und Skepsis der einfachen Leute sowie der in schönstem Wiener Schmäh präsentierten prätentiösen Ungerührtheit des österreichischen Staatskanzlers Metternich.

Trotz der großen Zeitspanne, der Komplexität der berücksichtigten politischen Verwicklungen und der Zahl und des Tempos der Personenwechsel konnte man Tino Leo sehr gut folgen. Ja, man musste aufmerksam bleiben, aber man wollte es auch, denn man wollte nichts verpassen von diesem mit spürbarer Begeisterung vorgeführten dramatischen Zeitraffer.

Tino Leo hat das Stück unter dem Titel „Einigkeit und Recht und Freiheit – Die Revolution von 1848/49“ als Auftragsarbeit entwickelt, beauftragt bzw. gefördert wurde es durch die Hessische Landesregierung, das Kulturamt der Stadt Frankfurt, die Landeszentrale für politische Bildung und den Landtag Rheinland-Pfalz sowie durch die Hessische Landeszentrale für politische Bildung. Die Leibnizschule kam als eine von 50 hessischen Schulen in den Genuss dieser vom Land geförderten Aufführung – und sie stieß bei uns auf große Zustimmung bei Schüler*innen- und Lehrer*innenschaft gleichermaßen (und das will schon was heißen… 😉 ).

Und manches an diesem verzweifelten Ringen um parlamentarische Vertretung der Volksinteressen im Gegensatz zu monarschischer bzw. aristokratischer Bevormundung erschien 175 Jahre nach der Paulskirchenversammlung, deren Jubiläum das Land Hessen mit Veranstaltungen wie diesen feiert, da sie ein Meilenstein auf dem Wege zur Demokratie in Deutschland war, erschien erstaunlich aktuell! Tino Leo selbst regte sein Publikum dazu an, einen Aktualitätsbezug herzustellen, indem er es mit Anachronismen wie einer Thermoskanne oder der Textzeile „Wiki leakt es“ dazu provozierte. Doch auch die Konzeption des Stückes selbst und die Auswahl und Präsentation seines Inhaltes legte nahe, das Gezeigte mit unserer Gegenwart zu vergleichen.

Die deutsche Trikolore wird hochgehalten – ehe sie (in Ungnade) fällt…

Einerseits hörte man hoffnungsvolle Parolen wie „O, edles deutsches Parlament! Mach’ unsrer Schmach nur bald ein End.“, einen Text, der seinerzeit auf einem Transparent zu lesen war (vgl. Devisen der Transparente […], A. G. Meyer 1848, No. 92, S. 21). Hoffmann von Fallerslebens Lied der Deutschen wurde in den historischen Kontext reintegriert, die schwarz-rot-goldene Trikolore, die bereits beim Hamnacher Fest vielfach zu sehen war, wurde gedeutet im Sinne der Entwicklung von der nachtschwarzen Düsternis der Fremdherrschaft, der Morgenröthe der Befreiung und dem Golde der leiuchtenden Zukunft, die dem Freiheitskampf entspringen möge. Ein Plädoyer für Pressefreiheit wurde im Original zitiert, indem es aus der Rolle eines zeitgenössischen Journalisten heraus mit besonderer Verve vorgetragen wurde. Andererseits präsentierte Leo die Gegenwehr konservativer Kräfte Deutschlands und Österreichs und den Zweifel der Bevölkerung, ob das Parlament Erfolg haben und etwas erreichen könne, ob sich die zerstrittenen Parteien würden einigen können und ob dem Reden auch Taten folgen würden – und wie sinnvoll und wie sehr im Interesse der Menschen diese sein mochten. Gerade die letzteren Fragen bewegen uns ja auch heute wieder – und mutmalßlich (mehr oder weniger) immer, da sie eine logische Begleiterscheinung der Demokratie als ebenjener Staatsform sind, die sich bemüht, zwischen widerstreitenden Partikularinteressen zu vermitteln und sie irgendwie möglichst sinnvoll unter einen Hut zu bringen.

Verzweifeltes Ringen um Frieheit und Demokratisierung.

Insofern ist Tino Leos Stück gleichermaßen historisch informativ wie hochaktuell, und wir waren froh, dass wir als einer der 50 Schulen ausgewählt wurden, in denen er mit seinem Revolutions-Stück gastiert.

Von dem, was wir da zu sehen und zu hören bekamen, wird sicherlich einiges hängen bleiben und uns längerfristig zu denken geben, wird es doch bei denen, die mit wachem Geiste dabei waren (und das schienen in der Tat alle zu sein!), immer wieder durch aktuelle politische Nachrichten neu evoziert werden. Und wenn Zuschauer durch das Stück angeregt werden, sich näher mit der Genese und dem Schicksal der Paulskirchenversammlung zu befassen, dann kann das nur gut sein. Unlängst zitierte eine Rednerin bei der Gedenkveranstaltung anlässlich der Enthüllung der Gedenktafel für die von den Nazis getöteten ehemaligen Schüler unserer Schule das berühmte Diktum George Santayanas, das dieser zwar auf das sogenannte Dritte Reich bezog, das sich aber auch grundaätzlich auf jeden zu überwindenden sozialen Missstand, wie ihn auch andere undemokratische Gesellschaftsformen wie das „System Metternich“ bzw. die sogenannte „Heilige Allianz“ aus Russland, Österreich, Preußen und später Frankreich darstellen, beziehen lässt: „Wer sich seiner Vergangenheit nicht erinnert, ist dazu verdammt, sie zu wiederholen.

Tino Leo lieferte uns beides: Die Erinnerung an Ungerechtigkeiten, die überwunden werden oder sein sollten, und die Erinnerung an demokratische Errungenschaften, die es wert sind, sie sich zum Vorbild zu nehmen.

Im Anschluss an die Aufführung gab es noch Zeit, mit Tino Leo über seine Biographie, sein berufliches Spektrum, die Genese seines Stückes und natürlich über dessen Inhalte und die historischen Hintergründe zu sprechen, und auch das war faszinierend, etwa wenn er berichtete, wie er sein Stück von ursprünglich 55 Seiten auf nur 12 kürzen musste, damit es im schulischen Rahmen spielbar und rezipierbar wurde. Seine Wahl von Itzsteins als zentraler und als Identifikationsfigur begründete Leo unter anderem damit, dass Itzstein Mainzer wie er selbst und zudem seiner Meinung nach der größte liberale Stratege des 19. Jahrhunderts gewesen sei, der sich ja schon 1793 für die Mainzer Republik engagiert habe und dem Paulskirchenparlament bis zu dessen Ende nach der Flucht nach Stuttgart treu geblieben war. Er ging auf seine Symbolik ein, etwa warum die schwarz-rot-goldene Fahne zuerst hochgehalten wird, dann mit dem Scheitern des Parlaments fällt und in Ungnade fällt und schließlich von von Itzstein aufgehoben und wie ein Baby zu Ludwig PfausBadischem Wiegenlied“ zärtlich im Arm gehalten wird.

Tino Leo äußert sich dabei auch zur Aktualität seines Stückes, wenn er sagt: „Wir haben heute im Grundgesetz teilweise noch Gesetze, die 175 Jahre alt sind, und das finde ich […] absolut erzählenswert!“

Und der PoWi- und Geschichslehrer Herr Keller zieht am Ende der Veranstaltung ein Fazit, das auch wieder Erinnerungen an das Gedenktafel-Projekt weckt, weil es einen grundsätzlichen Ansatz zur Vermittlung historischer Fakten und zu der verantwortungsbewussten Erinnerungskultur beschrreibt, der sich unsere Schule ebenso wie das Land Hessen mit seinem Programm zum 175. Jubiläum der Paulskirchenversammlung verschrieben hat, weshalb wir mit Herrn Kellers Worten auch diesen Bericht beenden wollen:

„Ich finde es ganz wichtig, dass man, wie [Tino Leo] es gesagt hat, dem Geschehen ein Gesicht gibt, und wenn es auch nur das eines Schauspielers ist, damit klar ist: es geht hier um Menschen!“

 

 

 

(Bild und Text samt red. Bearb.: Blu)