Vor 50 Jahren hielt der damalige Oberstudiendirektor Dr. Ernst-Jürgen Freese in der in der „Festschrift zur Einweihung des ersten Bauabschnitts des Neubaus Brandsbornstraße am 22. September 1972“ in seinem „Abriß der Geschichte der Anstalt“ folgendes fest: „Anarchistische und linksradikale Bestrebungen hatten Eingang bei vielen Schülern der Oberklassen gefunden – hier aus soziologischen Gründen vorzüglich in humanistischen Klassen…“. Eine nicht schmeichelhafte Bewertung, auch wenn Freese in seinem Beitrag zu Recht erwähnt, dass der Wille zum Gespräch zwischen Lehrern und Schülern nicht abriss.
Gemeint waren auch wir, die „Klasse 13a 1971“. Am 19.06.2022 waren wir erstmals seit 50+1 (Abi + Corona) Jahren wieder im Schulgebäude und das Ereignis gibt Anlass zum Rückblick.
Dieser Text ist eine persönliche Einschätzung des Autors.
In der Tat war die Atmosphäre beim Abitur 1971 eher frostig als feierlich. Die in früheren Jahren üblichen Abschlussfahrten der humanistischen Klassen nach Rom oder Athen gab es schon seit ein paar Jahren nicht mehr; eine Verabschiedung der Abiturienten mit Zeugnisübergabe in der Turnhalle gab aus Furcht vor politischen Aktionen auch nicht. Da die Schüler befürchteten, dass die mündlichen Prüfungen unfair sein könnten, wurde auf Betreiben der Schüler der Schul-Elternbeiratsvorsitzende zur Begleitung der mündlichen Prüfungen eingeladen. Die Übergabe der Abi-Zeugnisse wurde einzeln im Sekretariat abgewickelt; zusätzlich zum Zeugnis gab es eine Liste mit noch nicht zurückgegebenen Büchern.
Die letzten Schuljahre vor dem Abitur waren durchaus konfliktreich; wir befanden uns – wenn auch eher am Ende dieser zeitgeschichtlichen Phase – noch im Umfeld der 68er-Generation. Der gesellschaftliche Umbruch und die politische Aktivierung waren überall spürbar: gegen den Vietnam-Krieg, gegen Bild-Zeitung und Springer Presse, gegen die Notstandsgesetze, gegen Alt-Nazis in politischen Ämtern … auch dass „die Pille“ nur an Verheiratete verschrieben wurde und auch Homosexualität war – zwar ein wenig „abgeschwächt“ – noch immer ein Straftatbestand; außerehelicher Geschlechtsverkehr erfüllte bis 1969 noch den Straftatbestand der Unzucht. Es gab genügend politische und gesellschaftliche Gründe für Protest. Und 1971 waren wir noch nicht einmal volljährig (bis 1974: 21 Jahre), politische Haltung ging nur außerhalb des „Establishments“ in der „APO“ (außerparlamentarischen Opposition). Das Empfinden, dass Macht von Menschen über Menschen etwas ist, was nichts Gutes verheißt, fand spontanen Anklang.
Manches, was man tat oder forderte, ist aus heutiger Sicht nicht mehr gutzuheißen, es gab auch strafrechtlich relevante Aktionen. Es ging aber nicht um Revoluzzertum oder vordergründig destruktiven Anarchismus, wie im o.g. Beitrag vom Schulleiter insinuiert; Protest und alternative Ideen waren auch starke Treiber der Leistungsbereitschaft gerade in den humanistischen Klassen.
Es ging dabei auch um Lerninhalte, speziell um die der alten Sprachen. Die humanistische Pflichtlektüre, Platos „Kreislauf der Staatsverfassungen“, wurde von uns Schülern als Legitimation zur Beschränkung von Freiheitsrechten empfunden, die auch von Faschisten verwendet wurde. Nach intensiven Diskussionen mit den Lehrern wurde statt Plato Aristophanes’ „Die Archaner“ gelesen, eine Komödie mit derben (nicht ganz jugendfreien) Passagen, in der der Peleponnesische Krieg ironisierend ad absurdum geführt wird. Auch im Lateinunterricht wurden statt der Lektüre über Krieg und Helden zum Beispiel Petronius’ „Gastmahl des Trimalchio“ gelesen. Ein frivoler Stoff über Dekadenz im alten Rom, der übrigens auch von Federico Fellini im Film Satyricon verarbeitet wurde. Der Perspektivwechsel war motivierend und erfolgreich; auch unsere Lehrer Jung und Thiedecke nahmen diese Herausforderung gerne an und waren mit Spaß dabei.
Was für mich besonders bemerkenswert an der Entwicklung unserer Klasse 13a ist, ist die Diversität der Entwicklung, das Spektrum der im Laufe des Lebens erworbenen beruflichen Qualifikationen: Diplomingenieur, Pfarrer, Biologe, Ärzte mit sehr unterschiedlichen Fachausrichtungen, Schriftstellerin, Medienwissenschaftler, Lehrer, Betreiber eines Fitnessstudios, Coach u.v.a.m. sind als Berufe gewählt worden und zeigen, dass die humanistische schulische Bildung nicht ein antikes Abseits ist, sondern sehr viele Wahlmöglichkeiten eröffnet hat, obwohl oder vielleicht sogar weil Latein und Alt-Griechisch keine unmittelbar „verwertbaren“ Qualifikationen waren, aber doch Schlüsselqualifikationen förderten.
Für viele war dieses Zusammentreffen das erste Mail seit 50 Jahren, dass wir den Altbau wieder betreten haben. Auch wenn der Gesamteindruck des mächtigen Gebäudes genauso beeindruckend wirkt wie früher, sind die Klassenzimmer modern und hell und auch die Digitalisierung ist sichtbarer Bestandteil der schulischen Infrastruktur. Der unbestrittene Höhepunkt war ganz sicher der Aufstieg ganz nach oben zum Uhrturm mit tollem 360-Grad-Blick, den sich keiner der inzwischen 70-jährigen hat nehmen lassen.
Dank an die Schulleitung insgesamt, insbesondere Frau Stadler für die Recherche nach der Festschrift von 1972 und unseren Guide, meinen Sportfreund Michael Meyer, für das freundliche Willkommen und die tolle Führung der humanistischen Anarchisten des Abiturjahrgangs 1971.
(Text: Bernhard Engel (Abi 1971) / Bildvorlagen: My & priv. / red. Bearbeitungen von Text & Bild (Animation, Collage): Blu )
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