Für Montag, 2. November 2020, hatte das Kultusministerium alle hessischen Schulen zu einer Schweigeminute für den ermordeten Lehrer Samuel Paty aufgerufen, die bei uns an der Leibnizschule um 11:05 Uhr stattfand.

Kultusminister Dr. Lorz sagte dazu: „Wir möchten damit unser Mitgefühl ausdrücken und uns solidarisch zeigen im Kampf gegen Terror und Extremismus […] Mit der Schweigeminute setzen wir zugleich ein Zeichen der Solidarität mit Lehrkräften in aller Welt, die im Unterricht und darüber hinaus für Toleranz und eine offene Gesellschaft einstehen und diskriminierendes Verhalten entschieden in die Schranken weisen.“

Für uns in der Leibizschule, die sich Leibnizens Ausspruch von der „unitas in multitudine“ (im Eingangsbereich des Neubaus) an das Schulgebäude gepinnt hat und großen Wert darauf legt, dass hier jeder glücklich und unbehelligt zusammen mit anderen, gleich welcher Herkunft und Weltanschauung, als Teil einer vielfältigen Einheit in Frieden leben kann, ist es selbstverständlich, der Aufforderung des Kultusministeriums zu folgen.

Die Reaktion mag etwas verspätet erscheinen – das ist wohl dem Umstand geschuldet, dass man in Deutschland dank der Corona-Pandemie vielleicht etwas zu stark auf den eigenen engeren Zirkel fokussiert war, aber Zeit spielt an dieser Stelle keine Rolle: es geht um etwas Grundsätzliches.

Der französische Präsident Emmanuel Macron hat in einem Interview, das er, um in der muslimischen Welt für Verständnis zu werden, dem arabischen Sender Al Jazeera gab, selbst wiederum Verständnis geäußert dafür, dass Menschen über die umstrittenen Mohammed-Karikaturen verärgert seien. Er verstehe, dass man von Karikaturen schockiert sein könne, beteuerte er. Zugleich aber machte er sehr deutlich klar, dass er niemals akzeptieren könne und wolle, dass man – etwa mit einer solchen Gekränktheit – Gewalt rechtfertige.

Das ist auch etwas, worum wir uns in de Leibnizschule – selbstverständlich – bemühen: Von der 5. Klasse an bemühen wir uns darum, dass alle Mitglieder der Schulgemeinschaft sich unablässig in Toleranz üben und dies eine ihrer Grundeinstellungen werden oder bleiben zu lassen, und begegnen jeder Form von Gewalt, aus welchen Gründen sie auch verübt wird.

Vor fünf Jahren haben wir uns auf unserer Homepage schon einmal zu dieser Thematik äußern müssen. Was wir damals, ausgelöst durch den islamistisch motivierten Anschlag auf die Redaktion des französischen Satiremagazins Charlie Hebdo und einen jüdischen Supermarkt im Januar 2015 und die ebenfalls islamistisch motivierten Anschläge auf Paris vom November 2015, schrieben, können wir nur – und müssen es leider, da solches nicht hinnehmbar ist – angesichts der jüngsten erneut isalamistisch motivierten Anschläge in Paris, Nizza und inzwischen auch noch in Wien, aber auch in Kabul, allen voran aber der Enthauptung des Lehrers Samuel Paty, der letztlich dafür starb, dass er in seinem Unterricht für Meinungsfreiheit und Pluralität warb, wiederholen:

„Je suis Paris“ [bzw. heute auch „Je suis Paty“] hätte bestimmt auch Gottfried Wilhelm Leibniz gesagt, der in Paris als Diplomat tätig war, der als echter Europäer bereits den ganzen Kontinent bereiste und der oft und viele seiner Werke und Briefe auf Französisch schrieb. Auch wenn wir bezüglich seiner Reaktion auf die Anschläge nur spekulieren können, können wir doch mit Sicherheit sagen, was er über das Verhältnis von Religion und Gewalt geschrieben hat. So bekennt er 1710 in seinem Werk „Theodizee“ (im Original „Essais de Théodicée“, dessen deutsche Ausgabe den Untertitel trägt „Von der Güte Gottes, der Freiheit des Menschen und dem Ursprung des Übels“), er strebe danach, „die Menschen von den falschen Vorstellungen zu befreien, die ihnen Gott als einen absoluten Herrscher darstellen, despotische Macht ausübend, wenig geeignet und wenig wert, geliebt zu werden.“ (A. a. O., Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1985; S. 217.) Vor diesem Hintergrund können wir uns folglich sicher sein, dass er, ein früher Vertreter der Aufklärung, die Anschläge von Paris [von 2015 ebenso wie die aktuellen von 2020] verurteilt hätte.

Wir – die Leibnizschule, also SchülerInnen, Eltern und LehrerInnen – verurteilen sie ebenso und fühlen mit den Bürgern von Paris [ebenso wie nun zudem jenen von Nizza, Kabul und Wien], die sich in ihrer eigenen Heimat nicht mehr sicher fühlen.

Aus Anlass der Attentate von Paris rief [seinerzeit] die Schulseelsorge durch eine Installation im Neubau dazu auf, dem [damals] auch unter dem Hashtag #prayforparis im Internet verbreiteten Aufruf zur Solidarität mit der vom Terror verunsicherten französischen Hauptstadt zu folgen. Ergänzt wurden die Aushänge bereits von Seiten der Schülerschaft durch weitere Wandzettel, die ans Gedenken an all jene mahnen, die andernorts ebenfalls Opfer des Terrors geworden sind. Das Plädoyer, das „#prayforparis“ auszuweiten auf ein „#prayfortheworld“, ist ein Zeichen globalen Bewusstseins, das Anerkennung verdient. [Es ging damals darum,] in der Leibnizschule ein Zeichen dafür zu setzen, dass wir als Schulgemeinschaft ganz generell mit den Leidtragenden des Terrors fühlen und uns nicht nur ein friedliches und friedliebendes Europa wünschen, sondern eine friedliche, friedliebende und freiheitlich-tolerante Welt, in der niemand wegen seiner Überzeugungen benachteiligt oder verfolgt wird.
Das wäre – um wieder mit Leibniz zu sprechen und sein Credo zu einer Maxime umzuwandeln – die beste aller möglichen Welten, die es anzustreben gilt.

In diesem Zusammenhang ist aber auch zu bedenken, dass das Entsetzen über die Anschläge auf Paris nicht nur Paris als geographischen Ort betrifft – Paris ist als historischer Ort der französischen Revolution auch ein Sinnbild für die damals verteidigten Werte liberté, egalité und fraternité (Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit). Diese Grundwerte, auf denen die Verfassungen der europäischen und vieler anderer Staaten sowie Staatenverbünde wie den USA und der EU basieren, sind grundsätzlich gute Werte, die es dem Menschen ermöglichen wollen, so zu sein, wie er ist und sein möchte. Die Aufklärer (wie Leibniz) wussten, dass es jedem vernünftigen Menschen klar sein muss, dass solche Grundwerte für jeden Einzelnen eine erstrebenswerte Daseinsgrundlage darstellen müssen. Daher gilt es, sie zu verteidigen. Alles andere steht in eklatantem Widerspruch zur Vernunft – und übrigens auch zu jener Religion, auf die sich die Attentäter berufen. Eine derartige anmaßende Unvernunft widerte ebenfalls auch schon Leibniz an. Um 1670 herum fand er im Abschnitt „Universale Gerechtigkeit als klug verteilte Liebe zu allen“ in seinen bereits 1669-1771 erarbeiteten Entwürfen zu den „Elementen des Naturrechts“ einen Begriff für jene Unvernunft, die das Wissen ignoriert, das dem Geist verfügbar wäre oder das er sogar schon besitzt, einen Begriff: er nannte ihn den „Feind […] in uns selbst“. (A. a. O., Hamburg: Felix Meiner 2003; S. 217.)

Nicht zuletzt dafür stehen Schulen wie die unsere ein: Aufzuklären, die Unwissenheit und die Ignoranz mit den Mitteln der Bildung zu bekämpfen und den von der Unvernunft Verführbaren das Rüstzeug dafür anzubieten, den Feind in ihnen selbst zu bekämpfen.

In seiner berühmten (und in der Schule immer wieder gelesenen) Schrift „Beantwortung der Frage »Was ist Aufklärung?«“ rühmte der große Vernunftethiker Immanuel Kant 1784 Friedrich II., König von Preußen , auch Friedrich der Große oder der Alte Fritz genannt, dafür, dass dieser sich nicht mit dem Attribut der Toleranz schmücken wolle, sondern es regelrecht „für [seine] Pflicht halte, in Religionsdingen den Menschen nichts vorzuschreiben, sondern ihnen die volle Freiheit zu lassen“. Kant lehrt uns, dass es unsere Vernunft selbst ist, die uns die Toleranz als Glücksbedingung erkennen und uns zur Pflicht werden lässt. Nur so kann, wie es ebenjener Friedrich II. im Jahre 1740 formulierte, „ein jeder nach seiner Fasson selig werden“.

Wir wissen, dass Freiheit und Toleranz uns guttun und zweifelsohne etwas Gutes sind. Also werden immer Menschen dafür einstehen und also wird die Menschheit diese Werte auch nie aufgeben – nicht in Paris, nicht im Nahen Osten, nicht irgendwo sonst auf der Welt.